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Titel
Heinrich Bullinger (1504–1575). Leben, Werk und Wirkung


Autor(en)
Büsser, Fritz
Erschienen
Zürich 2004: Theologischer Verlag Zürich
Anzahl Seiten
305 und 371 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Martin Haas, Berlin

Fritz Büsser legt ein gewichtiges Werk vor und schliesst dabei gleichzeitig eine grosse Lücke. Wer bisher den Versuch unternahm, sich über Bullinger umfassend zu orientieren, merkte bald, dass er weit zurück suchen musste. Natürlich gibt es aus verschiedenen Forschungsepochen Arbeiten über Bullinger, die sich auf zeitliche oder thematische Ausschnitte beziehen. Aber es fehlt eine umfassende, breite biographische Darstellung. Noch um 1965 konnte man erschrecken, wenn man das Werk Carl Pestalozzis aus dem Jahre 1858 als noch immer massgebende Referenz zur Kenntnis nehmen musste. Es ist bekannt, dass inzwischen viel geschehen ist. Der Briefwechsel Bullingers ist zu einem beachtlichen Teil ediert worden. Er gehört zu den Standardwerken für die theologische und historische Forschung des 16. Jahrhunderts. Verzeichnisse von Bullingers Werken und seiner Bibliothek sind erschienen. Ferner liegen seit 2004 und 2006 sieben Bände von Bullingers Schriften in deutscher Übersetzung vor. Vielfältige Forschungen zur Theologie und zur historischen Wirkung Bullingers sind erschienen. Treibende Kraft für viele Forschungen und Publikationen ist das Institut für Schweizerische Reformationsgeschichte an der Universität Zürich. Sein erster Leiter war 1968–1989 Fritz Büsser.

Das hier angezeigte Werk Büssers stützt sich auf die ganze verfügbare Literatur, speziell aber auf die Editionen und Publikationen, die seit 1965 in beeindruckender Dichte und Qualität erschienen sind, in der Schweiz und in ganz Europa, inklusive dem ganzen englischen Sprachraum. Büsser kann sich also bereits auf eine intensive, aber noch nicht immer kohärente Forschungsbasis stützen. Zweierlei fällt am Aufbau des Werkes vorerst auf:

Erstens gibt Büsser im Apparat guten Zugang zur einschlägigen alten und neuen Spezialforschung. Er macht dies wie üblich im Literaturteil am Schluss des Bandes. Im besonderen gibt er aber zusätzlichen Literaturüberblick zu den speziellen Themen im Vorspann eines jeden Kapitels. Die Quellen- und Literaturbasis für Büssers Darstellung ist transparent. Der Anmerkungsapparat ist so angelegt, dass der Leser die Abstützung des Textes auf die bisherige Forschung und die Quellen zu jedem Punkt der Darstellung beurteilen kann. So vermag das Buch Überblick zu geben und den Zugang zu weiterer, vertiefender Arbeit zu öffnen. In diesem Sinne wird das Werk auch als Handbuch unverzichtbar sein.

Und zweitens: Büsser arbeitet referierend. Er beschreibt Aufbau und Inhalt von Bullingers wichtigsten Schriften, gibt Einblick in historische Situationen und Entwicklungen bei Bullinger persönlich und im engeren und weiteren geschichtlichen Umfeld. Die reichen Quellenzitate aus den Werken sollen das Bild farbiger, lebendiger und auch authentischer gestalten, sollen dem Leser den Menschen und das Werk näher bringen. Büsser präzisiert seine Absicht für das Buch so: «In der Einleitung zu unserem Buch haben wir bemerkt, dass dieses eine Beschreibung von Bullingers Leben, Werk und Wirkung geben will. Das schliesst zum vorneherein eine umfassendere Darstellung seiner Theologie aus, nicht aber einen Überblick» (S. 265). Im Vorwort hält Büsser fest: «Seine (also Bullingers) theologische Gedanken finden sich zum einen als Zusammenfassung der Dekaden am Schluss des ersten Bandes, zum andern in Verbindung mit bestimmten Ereignissen oder theologischen Themen, d.h. gewissermassen an ihrem ‘Sitz des Lebens’» (S. XII). Der biographische Ablauf, die Zeitachse, bestimmt also den Fluss der Darstellung, wobei sich in diesem Raster inhaltliche Schwerpunkte quasi in situ bilden und die Theologie im Zusammenhang mit den Dekaden nochmals besonderes Gewicht erhält. Diese erste neue Biographie Bullingers ist auf zwei Bände angelegt. Der erste befasst sich vorerst mit dem Werdegang bis zur Berufung nach Zürich. Eingebettet in den biographischen Ablauf wird die Entwicklung Bullingers anhand seiner Schriften und Werke aus diesem Lebensabschnitt erörtert.

Daran schliesst sich, als Schwerpunkt des ersten Bandes, das Werk und das Wirken als Antistes an, und zwar bezogen auf Zürich. Diesen Teil überschreibt Büsser mit «Zürich – ‘eine Stadt auf dem Berge’». Er bezeichnet Zürich als den ersten Kreis Bullingers, inhaltlich und räumlich verstanden. Der Titel lässt aufhorchen. Büsser verdeutlicht: (Bd. I, S. 115): «Es mag an dieser Stelle gewissermassen als Scharnier eine bisher kaum beachtete Stelle aus Bullingers Dekaden erwähnt werden, welche von der puritanischen ‘Stadt auf dem Berg’ handelt und ganz offensichtlich nicht auf Genf, sondern auf Zürich weist.» Dann zitiert Büsser den Bullinger wörtlich: «Es gibt nichts Lieblicheres als eine solche Form und Gestalt der Gemeinden, worin die Kirche recht eingerichtet […] ist, wo Gott auf die rechte Art verehrt wird und worin man Gottes Wort Gehorsam schenkt, nämlich mit Glaube und Liebe, soviel Gott einem jeden an Gnade verleiht. Da schützt die Obrigkeit die Kirchenzucht […] Die Bürger sind gehorsam, friedfertig und einig […]. Da gibt es Schulen, die rechte Lebensart und Bildung vermitteln. Da ernährt man sich mit rechtschaffenen Tätigkeiten […]. Da erzieht man die Kinder, tut Gutes den Eltern, desgleichen auch den Armen und Fremden.» Dies ist eine jubilierende Beschreibung durch Bullinger. Sie zeigt das Leitmotiv des damaligen Handelns in Zürich. Büsser übernimmt dieses Bild nicht einfach als die ganze Realität. Vielmehr referiert und rezipiert er durch das Kapitel hindurch die heutigen Untersuchungen zum damaligen politischen und sozialen Umfeld, zum realen zürcherischen System. Er zeigt, wie Zwinglis Vorstellungen vom Corpus Christianum durch die Wandlung und Stärkung der Institutionen in Zürich gefestigte Formen fanden. Gemeinschaft sollte gelten und nicht irgendwelche Trennungen, was zu Abgrenzungen gegenüber Calvin führte. Das Zusammengehen von obrigkeitlichen und kirchlichen Einrichtungen führte zur damals erwünschten Normenkontrolle und, in der Durchsetzung, zur christlichen Sozialkontrolle. Büssers breite Darstellung öffnet gleichzeitig den Zugang zur nationalen und internationalen Forschung über Bullingers Zürich.

Im zweiten Band werden der zweite und der dritte Kreis von Bullingers Arbeit behandelt. Der zweite umfasst das Wirkungsfeld in der reformierten Eidgenossenschaft. Dabei weist ein einleitendes Kapitel, betitelt «Bullinger – Patriarch einer reformierten Katholizität», auf Bullingers Selbstverständnis hin. Er war Berater der reformierten Orte in der Eidgenossenschaft, aber im Sinne der umfassenden Aufgabe suchte er Kontakte mit Calvin, er führte den theologischen Kampf gegen das Tridentinum. Büsser geht davon aus, dass 1536, als Calvin seine Tätigkeit in Genf aufnahm, die Theologie Bullingers bereits entwickelt war, so dass sich kaum Einflüsse von Calvin feststellen lassen. Der Kontakt hatte partnerschaftliche Dialoge und Klärungen zum Inhalt, von Seiten Bullingers auch mit Vorschlägen zu mässigendem Vorgehen in Tagesfragen. Ausführlich werden auch Bullingers Verbindungen mit den anderen reformierten Orten in der Schweiz dargestellt. Adressaten waren vor allem die Theologen. Mit Myconius in Basel entwickelte sich ebenso ein partnerschftlicher Dialog wie mit Vadian, dem Bügermeister von St.Gallen. Besonders intensiv engagierte sich Bullinger als Berater in der Reformation Graubündens. Für die Berner sodann war Bullinger vor allem Berater, für Berchtold Haller ebenso wie für Johannes Haller. Besondere Akzente ergaben sich im Abendmahlsstreit, in der Abgrenzung von den Vermittlungsbemühungen der Strassburger während der Auseinandersetzung zwischen Luther und den Schweizern, ein Zwist, der auch in Bern heftigen Niederschlag fand. Gleichermassen war sein Rat im Streit um die Gestaltung des Sittengerichtes gefragt, zumal sich in Welsch-Bern heftiger Anhang für die trennenden Formen bei Calvin fand und wo Deutsch-Bern mit seiner, analog zu Zürich, obrigkeitlich geführten Form sich mühsam durchsetzen musste. Eher kurz werden die Auseinandersetzungen mit den Radikalen, vor allem mit den Täufern, dargestellt, wobei das Gewicht auf dem «unverschampten Frevel» und auf «der Wiedertöufferen Ursprung» liegt. Bullingers Anteil an der Täuferpolitik in Zürich und Bern und seine Zustimmung zu Verfolgungen und Hinrichtungen sind kein zentrales Thema.

Der dritte Kreis: «Bullinger und die Reformierten in Europa» zeigt die weitere Ausstrahlung des «Patriarchen einer reformierten Katholizität». Schwierig ist der Nachweis bezüglich Frankreich, denn Kontakte mit Diplomaten, die vor allem für die Interessen der französischen Bündnispoltik zu werben hatten, belegen, dass man Bullinger in den Gesprächsreigen einbeziehen musste, wie andere Exponenten auch. Der Leser mag sich fragen, ob die schmeichelnden Captationes Benevolentiae an Bullinger wirklich ein realistischer Index für dessen Einfluss und Bedeutung in Frankreich waren oder ob doch wohl eher Bestrebungen von Diplomaten und Theologen, sich Goodwill zu verschaffen. Der wertende Titel «Bullinger – eine gute Adresse für die Hugenotten» lässt sich als Ausdruck für dessen wichtige Rolle hinter Calvin verstehen. Im Kapitel über die Einflüsse in England kann sich Büsser auf eine breite, vor allem auch englische und amerikanische, Forschung abstützen und in dieses Umfeld sein Wissen aus der Bullingerforschung entsprechend einsetzen. Dabei verzichtet Büsser zu Recht darauf, die vielfältigen Einflüsse verschiedener reformierter Richtungen und der anglikanischen Tradition untereinander im Sinne einer Rangfolge zu gewichten. Er kann aber auf die vielen Publikationen Bullingers verweisen, welche in den kritischen Jahren in englischer Sprache erschienen sind. Ebenso kohärent gelangt Bullingers Zusammenarbeit mit den reformierten Bestrebungen in Deutschland und Holland sowie, abschliessend, in Polen und Ungarn zur Darstellung.

Diese Biographie öffnet sachlich den Blick auf das Lebenswerk Bullingers und erschliesst die theologische und historische Forschung. Das Buch ist spürbar auch aus Bewunderung und aus Liebe zu Bullinger heraus geschrieben. Das ist sichtbar und nachvollziehbar. Diese Haltung mindert aber den Wert des Werkes nicht. Sie gibt ihm Profil.

Zitierweise:
Martin Haas: Rezension zu: Fritz Büsser: Heinrich Bullinger (1504–1575), Leben, Werk und Wirkung. 2 Bände. Zürich, Theologischer Verlag Zürich, 2004 und 2005. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 57 Nr. 1, 2007, S. 113-115.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 57 Nr. 1, 2007, S. 113-115.

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